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Im freien Fluss der Formen
Die Holzschnitte des Hans-Uwe Hähn

 

In den Holzschnitten registriert Hans-Uwe Hähn die Schwingungen seiner Umgebung mit seismographischer Feinfühligkeit.
Freie unvermittelte Formgebilde notieren auf der Bildfläche, was er an atmosphärischen Energien wahrnimmt. Alltagsbeobachtungen, Erlebnisse, Träume geben ihm Anlässe und Assoziationen für die in dichter Serie fliessende Entwicklung seiner Formgeburten, in der Banales bedeutend wird und Bedeutendes beiläufig erscheint. Ein abfällig weggelegter Gegenstand, ein zufällig daher geflogener Vogel, ein Liebespaar, ein Streitgespräch …
Raumteile, flächige Konstrukte oder Erinnerungen an gewachsene Wesen, deren Organe, Fasern und Kanäle scheinen auf oder werfen dunkle Schatten.
Mehrere Druckplatten tragen verschiedene Schichten verwandter Motive oder auch verschiedener, divergierender Strukturen bei, die nicht im strengen Sinne aufeinander abgestimmt und komponiert sind, sondern aus einem Prozess offener Improvisation entstehen. Wie in der poly-rhythmischen Musik afrikanischer Kulturen treten daraus Energiefelder mit unterschiedlicher Ladungsdichte zu Tage.
Vorher unzusammenhängende Formteile bilden neue organische Strukturen und poetische Bezüge. Überreale Gewebe entstehen, unterschiedliche Materie-Mengen, Membranen und Strömungslinien. Nerven und Gefässe, die – körperlich dargestellt – seelische Ströme sichtbar machen.
Wie Psychogramme oder kleine Graffitis vermitteln die vieldeutigen Zeichen die Intuition einer Lebensspannung, in der Körper und Zwischenräume, Flächen, Punkte und Linien wohl differenziert und doch verwachsen als Teile eines grösseren Ganzen erscheinen. Wie biomorphe Schaltpläne muten sie an, die von Spannung, Widerstand, Entspannung künden.
Farben verstärken die ursprüngliche und intuitive Wirkung. Im Mehrfarbendruck begegnen sich feine nuancierte Töne isoliert und kontrastiert zu vielfältigem Wechselspiel der Stimmungen und Temperaturen.
Noch eindeutiger als in seinen grossen Gemälden und kleinen Malskizzen findet Hans-Uwe Hähn im Holzschnitt ein bildnerisches Verfahren, das ihm ohne intellektuelle Überladung ein halb-automatisches Vorgehen und abstrakt-expressiven Ausdruck ermöglicht. Von der linearen Ritzzeichnung bis zu ausufernden Flächengrabung zeigen sich sinnlich wahrnehmbare Bearbeitungsspuren: Feine Gravuren, grobes Schneiden, flüchtiges Hacken, präzises Ausstechen, Farbauftrag mit der Handwalze und Abrieb mit dem Löffel sind sichtbare Zeichen seiner unmittelbaren Haltung und seines vollkommenen Eintauchens in den Gestaltungsprozess.
Weniger mit informeller Methode denn mit surrealer Visionskraft spielt und reflektiert Hans-Uwe Hähn über die harmlos-dramatischen Gegensätze der Formen und Welten in gleichsam musikalischem Fluss – so weit und so viel, wie gerade genug ist.

 

Albrecht Werwigk, 2002

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