Die Technik des Linolschnittes beinhaltet einen fundamentalen Gegensatz in sich selber: es gibt nur druckende und nicht druckende Stellen. Vielleicht ist es dieses Entweder-Oder, das mich immer wieder aufs Neue beschäftigt.
Dabei arbeite ich selten mit genauen Entwürfen. Lieber zeichne ich mit Bleistift flüchtig auf die Linolplatte. Erst beim Schneiden werde ich mich festlegen. Ich habe das Bild unbestimmt im Kopf. Die Ausarbeitung ist ein handwerklicher Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Ich muss meine Arbeit immer wieder als Probedruck sehen. Wie wirkt es jetzt? Wo mache ich harte Kontraste, wo weiche Übergänge, wie kann ich Schraffuren und Effekte einsetzen?
Es sind Experimente um die immer gleichen Fragen: Wie gestalte ich den Raum? Wie setzte ich Farben ein? Was kommt in den Vordergrund? Und vor allem: Was möchte ich darstellen? Keine einfache Frage. Wie alle modernen Menschen begegne ich täglich einer Flut von Bildern in ganz verschiedenen Zusammenhängen und Medien. Alles kann mich inspirieren: Menschen, Städte, Landschaften, Tiere, Formen der Natur, Pressefotografie, Comic-Strip und historische Motive …
Ich will mich nicht festlegen; in einem gewissen Sinn ist das Bildmotiv nur die Oberfläche. Diese Oberfläche darf beliebig sein – ganz subjektiv treffe ich meine Wahl. Dann beginnt das Arbeiten am Zusammenspiel von Form und Inhalt.
Am Ende kann es vorkommen, dass ein Bild über die oberflächliche Wahrnehmung hinaus wirkt und Gefühle, Klänge, Erinnerungen wachruft.
Das Drucken, das Arbeiten mit Farben, Papier und Pressen ist immer mein wichtigstes Ausdrucksmittel gewesen. Neben dem Schneiden der Form hat die Farbe einen sehr wichtigen Stellenwert. Ich arbeite oft mit der Technik der verlorenen Form; dabei wird eine Druckplatte in mehreren Zuständen übereinander gedruckt. Farben und Formen beeinflussen sich gegenseitig. Das Bildmotiv erweitert sich mit jeder Farbe. Wie in der Malerei können auch in der Druckgrafik Farbflächen ganz unterschiedlich wirken: hauchdünn transparent auf dem Papier liegend oder fett und perlend aufgetragen, zart ineinander laufend oder hart kontrastierend. So drucke ich meine Blätter meist selber in kleinen Auflagen, um den Farbauftrag direkt zu beeinflussen.
Gerne gestalte ich mit meinen Linolschnitten Plakate oder Buch illustrationen. Ich beschäftige mich auch mit Schrift, Typographie und Buchgestaltung. Letztlich fasziniert mich alles Visuelle im Zusammenhang mit Druck und Papier.
Für die vorliegende Ausgabe der Xylon-Zeitschrift habe ich sechs Blätter gestaltet. Gegensätze bilden sie in sich und unter untereinander:
Blatt eins und zwei gehören zusammen. Die erste Idee war die Darstellung von Schneeflocken am Himmel. Später konnte ich es nicht lassen, einen Horizont hinzuzufügen, eine Schneelandschaft mit einen Haus, einem Weg und einer Telefonleitung … Etwa so, wie es bei uns vor vierzig Jahren ausgesehen hat. Im zweiten Blatt wandeln sich die Schneeflocken in Blumenblüten. Der Winter ist vorbei und meine fiktive Landschaft ist in der Gegenwart angekommen. Der Weg ist jetzt eine Schnellstrasse und um das Haus sind Wohnsiedlungen entstanden.
Beim dritten Blatt, dem grossen Riesenrad, wollte ich ursprünglich nur das Rad und die entschwebenden Gondeln abbilden, aber die Menschen gehören einfach dazu. So entstand ein grosses Gewimmel – am Boden wie im Himmel …
Beim Auflagendruck dieser farbigen Blätter war ich beteiligt: Die beiden kleinen Formate vervielfältigte ich in meinem Atelier (www.druckwerk.ch). Das grosse Blatt druckte ich mit Hilfe von Andreas Hoffmann im Basler Museum für Schrift, Druck und Papier. An dieser Stelle möchte ich der «Kulturpauschale Basel Stadt» danken, welcher die Herstellung der farbigen Blätter mit einem kleinen Beitrag unterstützt hat.
Wie moderne Archen gleiten immer grösser werdende Superschiffe über die Meere. Erst wenn sich eine Panne ereignet, dringen sie in unser Bewusstsein. Blatt vier, ein brennendes Schiff, dessen Rauchsäule am Himmel weit herum sichtbar ist, steht im Kontrast zur ruhigen Meeresoberfläche und der friedlichen Abendstimmung. Bei diesem Blatt habe ich Holz- und Linolschnitt auf eine Platte zusammenmontiert.
Im fünften Blatt versuchte ich eine ganz andere Wetterstimmung zu schaffen. Das voll beladene Containerschiff kämpft sich durch Wellen und Sturm. Beide Bilder sind inspiriert von Pressefotos.
Dagegen ist das letzte Blatt ein pures Fantasiegebilde, der Zauberwald mit seinen Formen der Natur. Es war für mich nicht einfach, bei diesem Motiv nur eine Farbe einzusetzen. Auch das Umschlagbild ist ein Fantasiebild, es enthält aber auch Elemente aus meiner Erinnerung: Der Zirkus unter einem Autobahnviadukt, Menschen, die ein Stück Zauber in unseren Alltag bringen …
Das möchte ich mit meinen Linolschnitten auch können!
Marcel Mayer, im November 2008
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