Vier Holzschnitte für das Baby, dessen Grossvater das Stricken verlernt hat
Ich bin am 10. Dezember 1955 geboren und wurde am 15. Dezember 1979 als 24-Jähriger Vater. Am 7. August 2018 hat unsere Tochter Vera Ida in Berlin einen Sohn geboren und uns zu Grosseltern gemacht. Dieses wunderbare Ereignis weckt natürlich starke Erinnerungen.
Die Schwangerschaft von Monika, die auf den Tag genau zwei Jahre jünger ist als ich, veränderte mein Leben. Ich wusste damals sofort, dass ich nur noch als Künstler arbeiten kann. Während der
Schwangerschaft malte ich exzessiv Hunderte von Bildern übereinander, auf drei grosse Leinwände. Mit jedem neuen Bild übermalte ich bei diesem Akt das davor entstandene. Tagsüber arbeitete ich als Textilentwerfer und Atelierchef im Studio Graf und Müller AG. Meine Bilder entwickelten sich in den Nächten in einem rasanten und sich selbst weitertreibenden, rauschhaften Malprozess.
Existenzielle Fragen rund um das Leben, um unsere Zukunft und um die Tatsache, dass ich selber ein Kind zeugen, aber nie eins selber gebären werden kann, machten mir zu schaffen. In der damals heftig geführten Genderdiskussion fand ich es sehr speziell, dass Frauen fähig sind, das männliche und das weibliche Geschlecht zu gebären.
Von diesem riesigen Bilderzyklus blieben nach der Geburt von Vera drei elefantenhautdicke Gemälde bestehen. Auf allen Leinwänden ist als letztes Bild ein Rückenakt zu sehen. Die Figuren scheinen jeweils in das Bild hineinzuschauen.
Als Vera geboren war, schuf ich ein lebensgrosses, nacktes Paar aus textilen Materialien. Den Mann nähte ich zusammen aus rohen Leinwandresten und die Frau strickte ich mit grossen Stricknadeln aus bunten Stoffstreifen. Die Puppen waren relativ steif und nicht wirklich schön anzusehen. Mit diesen zwei Puppen reiste ich dann zusammen mit einer kleinen Gruppe von Textilentwerferinnen, die damals mit mir zusammenarbeiteten, im Zug nach Bern. Ich war eingeladen zur Teilnahme am eidgenössischen Wettbewerb für Angewandte Kunst.
Monika war damals entrüstet, dass ich sie und Vera nicht bei dieser Reise dabeihaben wollte. Für mich war das ein misslungener emanzipatorischer Versuch der Selbstbehauptung. An die Details kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich weiss nun aber als Grossvater, dass ich in der Zwischenzeit das Stricken verlernt habe.
Josef Felix Müller
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